Haiku

Haiku von Bassho
Haiku von Bassho

Das Haiku ist eine spezielle japanische Gedichtform, die kürzeste Gedichtform der Welt, mit einer langen Geschichte. Vor etwa 500 Jahren entwickelte es sich aus der Kettendichtung (Renga). Zu dieser Zeit war es üblich, dass sich Dichter in geselliger Runde zum Schreiben von Gedichten trafen. Das geschah nach festgelegten Regeln der Verknüpfung und vorgegebener Reihenfolge der Teilnehmer. Der Leiter dieser Runde legte den ersten Vers, das Hokku, den Startvers einer neuen Kette, fest, brachte ihn wohl schon zum Treffen mit. Es galt – und gilt noch heute – als besondere Ehre, das Hokku festlegen zu dürfen. Wurden die so entstandenen Gedichte zunächst nur mündlich weitergegeben, so entwickelte sich bald die Praxis, solche Hokkus in eigenen Sammlungen zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Ab dem 15. Jahrhundert etablierte sich das Hokku als eigenständige Versform und wurde zu einer eigenständigen Richtung der Literatur, aber erst im 16. Jahrhundert in der Form, die heute als klassisches Haiku bekannt ist. Diese wurde zunächst als Haikai und erst seit etwa 100 Jahren als Haiku bezeichnet. So kommt es, dass der bis heute in Japan bedeutendste Autor von Haikus, Matsuo Basho (1644-1694), zwar Haikus verfasste, aber diese Bezeichnung für seine Gedichte nicht kannte.
Zu seiner Zeit war die japanische Gesellschaft geprägt durch ein feudalistisches Klassen- und Ständesystem. Das Land schottete sich vom Rest der Welt ab. Es entstand eine in sich geschlossene, scheinbar unveränderliche Welt. Werte- und Symbolsysteme waren genau definiert. Dadurch hatten Dichter und Leser / Hörer einen gemeinsamen Verstehenshintergrund, der klar abgegrenzt war und Veränderungen nur im Detail zuließ, da es darum ging, den noch treffenderen, den noch genaueren Ausdruck zu finden, und nicht darum, etwas in Frage zu stellen, Veränderungen zu suchen oder gar neue Formen zu entwickeln. In dieser Zeit entstanden die „klassischen“ Haikus.

Die japanische Sprache gründet auf Lauteinheiten (Moren) gleicher Länge. Eine More oder Mora (von lat. Mora: Zeitraum) ist in der Phonologie (dem Teilgebiet der Sprachwissenschaft, das sich mit dem System und der bedeutungsmäßigen Funktion der einzelnen Laute und Lautgruppen beschäftigt) eine Maßeinheit für das Gewicht der Silben. Dabei entspricht eine More einer offenen Silbe mit kurzem Vokal oder einem Kurzvokal mit höchstens einem nachfolgenden Konsonanten. Wenn eine Silbe einen langen Vokal oder mehrere Konsonanten aufweist, ist sie mehr „wert“, zählt also zwei Moren. Dieser Sachverhalt soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:
Die japanische Sprache hat einen festen Vorrat an Lauten. Dieser besteht aus Vokalen (a, e, i, o, u), einer begrenzten Anzahl an unteilbaren Verbindungen von Konsonant und Vokal (z.B. shi, ka, wo) und dem Einzelkonsonanten n. Wenn man sich japanische Haikus in transkribierter Form anschaut (wie sie z.B. im Requiem von Karl Jenkins vorkommen), so sehen wir Europäer gleichlang erscheinende Silben. In Wirklichkeit aber sind es Moren. Einmal anders herum: Das Wort London hat für uns zwei Silben. Im Japanischen aber sind es vier Moren: Lo-n-do-n, und nur diese Lauteinheiten zählen für Haikus. Dabei wird sichtbar, dass die japanischen Moren weniger Informationen tragen als die Silben in den europäischen Sprachen. Man kann etwa sagen, dass 17 japanischen Lauteinheiten dem Informationsgehalt von ca. 10 bis 14 deutschen Silben entsprechen.

Es ist ein Merkmal japanischer Haikus (zumindest in ihrer klassischen Form), dass sie aus drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Moren (insgesamt: 17, siehe oben) bestehen. Dabei werden die Wörter im Original in einer Spalte von oben nach unten aneinander gereiht, meist durch zwei entsprechende Zäsuren gegliedert. Im Deutschen werden die Übersetzungen der klassischen Haikus in der Regel in drei Zeilen geschrieben, oft auch mit dem Schema von 5 – 7 – 5 Silben. Wichtig dabei ist, dass die Anzahl der Moren (17) einen Sprechrhythmus ergibt, der einen ähnlichen Erinnerungswert bietet wie die Reime im Deutschen. Einige Forscher argumentieren auch damit, dass diese 17 Moren einem Atemzug entsprächen. Nun hat sich das Haiku wie keine andere Versform in der Welt ausgebreitet; es wird heute in allen bedeutenden Sprachen geschrieben. So ist man nach verschiedenen Versuchen, in den europäischen Sprachen ein ähnlich festes Schema zu finden, dazu übergegangen, dass in den westlichen Ländern Haikus meist in freien Versen geschrieben werden, die 10 bis 17 Silben in meist drei Zeilen ohne Endreim aufweisen. Offen bleibt die Frage, inwiefern man Haikus überhaupt in eine andere Kultur „transportieren“ kann.

Weitere Merkmale der japanischen Haikus sind ihre Konkretheit und Gegenwärtigkeit: Fast immer wird ein sinnenhaftes Erlebnis oder ein beobachtbares Geschehen in Natur oder Landschaft ausgedrückt, auf jeden Fall außerhalb der menschlichen Natur. Auf den ersten Blick werden damit kaum allgemeine zeitlose Betrachtungen, Gedanken oder Vorstellungen thematisiert. Vielmehr blickt der Autor auf die Wahrnehmung einer überschaubaren Zeiteinheit. An diese Wahrnehmung kann jedoch auch der Blick auf Vergangenheit und auf Zukunft usw. angeknüpft werden. Denn jede Dichtung hat die Kraft, das Flüchtige und die Vergangenheit einzufangen, was besonders für die Kettendichtung, aus der das Haiku entstammt, gilt, die bestimmungsgemäß eine imaginäre Reise war, die oft auch die Vergangenheit einschloss.
Dennoch bleibt das Haiku auf der Ebene des Textes dem Moment verhaftet, wie es auch meistens aus dem Moment heraus und spontan entsteht. Diese Gegenwärtigkeit wird häufig ausgedrückt durch ein Kigo (Jahreszeitenwort) oder Kidai (Jahreszeitenthema), z.B. Kirschblüte, wobei der Autor vom eigenen Selbst abstrahiert. Diese Selbst-Vergessenheit kann dazu dienen, mit der gesamten Erscheinungswelt eins zu werden. Dabei nehmen die ersten beiden Zeilen des Haiku den Leser / Hörer mit, so dass er bereit ist für die letzte, die ihn blitzartig in die Wirklichkeit führt, die Wahrheit aufblitzen lässt. Ob dabei bestimmte Objekte stellvertretend für religiöse, gesellschaftliche oder philosophische Themen stehen, ist zwischen verschiedenen Auslegungs-Schulen von Haiku umstritten. Möglicherweise ist eine westliche Lesart des Haiku, die es symbolisch interpretiert und dabei einen (metaphysischen) Sinn unterstellt, eine typische europäische / abendländische Sichtweise.

Schließlich muss noch ergänzt werden, dass ein gelungenes Haiku nicht alles sagt. Vielmehr bleiben in diesem Sprachkunstwerk die Bilder offen, so dass der Hörer / Leser dazu aufgefordert ist, das Gedicht in sich wirken zu lassen, Assoziationen zu entwickeln und das Gehörte / Gelesene zu deuten und zu reflektieren. Das ist zwar in Bezug auf die meisten westlichen Gedichte ebenso, in vielen Haikus aber haben Andeutungen und das Spiel mit Assoziationen einen einzigartigen Stellenwert. Insofern nehmen die Autoren auch ständig Bezug auf frühere Texte, um ihnen eine zusätzliche inhaltliche Tiefenebene zu verschaffen. „Im Ungesagten das Unsagbare sagen“ (Toyotama Tsuno / Manfred Hausmann) könnte diese Art des Deutens durch Miterleben umschreiben.

Das Haiku wurde seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt bekannt. Zunächst wurde es in Frankreich und im englischen Sprachraum rezipiert, seit etwa 1920 auch in Deutschland. Dabei werden Haikus nicht nur gelesen, sondern sie werden heutzutage in fast allen Sprachen der Welt geschrieben. In Deutschland war dies lange Zeit auf eine kleine Gemeinde von Haiku-Schreibenden begrenzt; seit einigen Jahren hat sich aber auch in Deutschland eine lebendige Szene entwickelt.

Die Autoren von Haikus schrieben auch angesichts der Erfahrung des Todes oder dem Bewusstsein des (unmittelbar) bevorstehenden eigenen Todes. Besonders bekannt sind die japanischen Samurai, die sogenannte Todes-Haikus schrieben (jap.: jisei; engl.: death poems). Auf der folgenden Seite sollen die fünf Haikus, die Karl Jenkins für seine Vertonung des Requiems verwendet hat, kurz vorgestellt und übersetzt werden.

Hilfreich für die Gestaltung dieser Seite waren folgende Internet-Auftritte (der Zugriff erfolgte jeweils am 8. Juli 2010):

   1. Die Deutsche Haiku-Gesellschaft
   2. Haiku Heute
   3. Haiku Plus
   4. Modern Haiku
   5. Lernatelier von Barbara Lutz-Sikora
   6. Haiku-Linde, die Homepage von Dietlinde Heiden
   7. Wikipedia, Artikel „Haiku

Rainer Kunze